Der Regen – eine kretische Passion

Poetische Aufzeichnungen von Uwe Krist

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Nach der erzwungenen Enthaltsamkeit fängt nun wieder, wenn auch zaghaft, die Reisezeit an. Uwe Krist gewährt uns für diablog.eu Zutritt zum Sehnsuchtsort Kreta und seiner zuweilen befremdlichen Männerwelt.

Sanft bettet sich die schmale, schräge Ebene der Sfakia mit ihren knorrigen Ölbäumen, monumentalen Eukalyptusbäumen und schlanken Zypressen zwischen die grob zersplitterten Höhen der Lefka Ori-Berge und das seufzende Nass des Libyschen Meeres unter die Seidenkuppel des Firmaments. Frühling auf Kreta.

Der weiße Atem entfernter Acker-Feuer hat die sonst so fehlerlos blaue Himmelswölbung milchig angehaucht.

Eine sehnsuchtsvolle Zärtlichkeit liegt im milden Licht, jetzt am späten Nachmittag im Süden der knorrigen Insel.

Giorgios schaut sich nicht um. Er ist in dieses Panorama hineingeboren und bestaunt es nicht. Gleichmäßig steigt er weiter. Der Weg ist leicht für einen wie ihn.

blick von berg auf meer und landschaft

Er ist der Prototyp eines Kreters. Geschaffen für eine Paraderolle. Für jede glaubwürdige filmische Pose. Übeltäter oder Liebhaber. Held oder Hirte. Groß gewachsen, wildes, bereits angegrautes Haar, ein nach beiden Seiten gestreckter Schnurrbart. Über dem beigen Hemd eine schwarze knopflose Jacke, nur von einer Kordel zusammen gehalten. Graue Hosen, halbhohe Schnürstiefel. Optik wie aus dem Hausalbum uralter Sepia-Fotos.

Der Pfad schlängelt sich fußbreit zwischen nur kniehoch wachsende Zistrosen, Mittagsblumen, Binsen- und Myrtensträuchern.

Abgestorbene und vertrocknete Asphodelen, zwiebelige Pflanzen und im Hades die Nahrung des Todes, strecken ihre kahlen, trockenen Äste mit den weißen Blütenrosetten in den Weg und streicheln rau die Waden, Zikaden kreischen fast schmerzhaft laut und schrill gegen die Lyraklänge des Windes in den dürren Wiesengräsern und Fächerbündeln der Kiefern.

In den Kronen der Eukalyptusbäume und Eichen sind die sonst so geschwätzigen Krähen erschöpft verstummt. Am Berghang haben sich die Ziegen bereits ins dornige Geäst eines einzelnen Argan-Baumes zurückgezogen. Nur die drei schwarzen Zicklein lagern ermattet unten am Stamm.

Es ist schon weit hinein in den sich beugenden Tag. Warmer Wind, der sanftere Bruder des heißen Schirokko, kommt auf nach dem äolischen Nickerchen am Spätnachmittag.

Sinnlichkeit hängt wie ein Versprechen von Verführung und Glück über dem Berghang und schmeichelt sich mit dem Duft von Oleander, Thymian und Salbei auf die Lippen.

***

„Iassou, Giorgios!“

Maria grüßt ihren Onkel auf seinem Weg herab von den ärmlich-dürren Hangmatten, wo die Ziegen weiden. Giorgios ist der Bruder ihres Vaters Vassilis.
Der und seine Frau Katarina, die Eltern der drei Mädchen Stefania, Stella und Maria, sind seit Jahren schon tot. Untergegangen, ertrunken mit 87 anderen auf einer Fahrt mit der Auto-Fähre „Limnos 3“ von Piräus zurück nach Kreta, nach Iraklion.

Ein furchtbares Unglück, eine Tragödie panhellenischen Ausmaßes. Ein grausamer Wintersturm, fahrlässig verzurrte Autos unter Deck, die sich losrissen. Schräglage, aus.

Die drei Schwestern erbten das Elternhaus im Ort, das Kalivi am Berg, und mit etwas Erspartem konnte Stefania mit dem Anrecht der Ältesten unten in Agia Soumeli einen kleinen Laden, etwas größer als der übliche Kiosk, der Periptero, eröffnen. Dem arbeiteten Stella und Maria mit ihrem Käse zu.

Die Milch holen sie jetzt im Frühling bis zum Sommer von den Schafsweiden unterhalb der 400 Meter steil aufragenden  Felswand zum Pachnesgipfel, über den immer wieder kleine Gruppen von Bartgeiern streichen. Im zuweilen schneeigen Winter bleibt die Herde im festen Gatter unter Schutzdächern.
In der dürren Hitzeperiode des Sommers dann werden die Tiere aus Mangel an Gras quer übers Umland getrieben in der Hoffnung auf wenigstens geringste Futterpflanzen – meist zum Ärger der Bauern sind das kultivierte Blumen und Strauchpflanzen, was die Hirten prompt einen kleinen finanziellen Ausgleich kostet.

Die Schwestern wechseln sich ab im Transport der benötigten Schafsmilch auch von entlegeneren Stellen. Sie haben, um sie leichter zu finden, eine schrille, feine Signalpfeife wie bei der Bahn oder der Marine bei sich, die sie dann benutzen, bis ihnen der Hirte ebenso schrill antwortet. Ziegenmilch verarbeiten sie auch und holen sie ebenfalls ab, in dem sie die Wanderherden suchen und finden. Aber weniger.

ziegenherde

Maria hat ihren leeren Rucksack für einen Moment abgelegt am aschgrauen Stamm einer Aleppo-Kiefer, um in deren Schatten auszuruhen vom beschwerlichen Weg.

Auf dem Hinweg vor ein paar Stunden war der Rucksack noch gefüllt mit frischem harten Kefalotiri, dem kalt gelabten Ziegenkäse, den sie alle paar Tage runter bringt nach Agia Soumeli. Dort im kleinen Laden ihrer sieben Jahre älteren Schwester Stefania nahe dem Postgebäude soll er verkauft werden neben dem mit dem Peitschenstock von den klebrigen Zistrosen abgewedelten Ladanum, dem schmackhaften und – wenn nicht mehr! – angeblich heilenden Harz der zerknitterten Blumen.

***

„Maria, Mikrimou!“

Giorgios nennt seine Nichte noch immer „Mikrimou“,  „meine Kleine“. Es macht Maria nichts aus.

„Kommst Du von unten?“

Die Frage ist eigentlich überflüssig. Giorgios kennt ja die Rhythmen der Schwestern.

Er hockt sich zu Maria an die Kiefer.

„Ein wenig ausruhen.“

Die beiläufige Banalität dieses Dialoges fällt Maria nicht auf. Ihr Onkel hatte nie viel geredet. Das war normal für sie. Es war schon länger her, dass sie sich zuletzt getroffen hatten.

Eine uralte Situation.

Während sie ihm von Stella und Stefania und dem alten Kostas erzählt, nach Andreas fragt und dabei mit kleinen Schottersteinen nach Eidechsen schnippt, mustert Giorgios sie.

Sie ist älter geworden – nicht erwachsener. Anders. Sie trägt zum knielangen, dunkelblauen Leinenrock ein ebenfalls schon in den Farben gebleichtes blaues, baumwollenes Hemd, das wohl zuvor einer ihrer beiden älteren Schwestern gehört und gepasst hatte. An den kurzen Ärmeln ist es zu weit, und Giorgios kann seitlich hineinsehen, die kleinen schwellenden Hügelansätze einer ihrer Brüste erkennen hinter einem schwarznassen Büschel von Achselhaaren.

Die Haupthaare trägt sie noch immer lang, nur jetzt aus der Stirn gekämmt und hoch gebunden wegen der Hitze. Sie schimmern selbst im Knoten fast schwarz, aber mit einem gerade noch erkennbaren Hauch ins tiefste Dunkelrot, als trete hier das Erbteil der vor Jahrhunderten eingewanderten Genueser oder Lombarden durch.

Ihre Gesichtshaut ist von der Sonne gebräunt, die Augen – wie in heißem Sand erglühter türkischer Mokka, mandelförmiger als sonst, deren Brauen sich an der Stirn nähern. Die Nase fast ideal gerade gewachsen, ohne den attischen Hügel.

Ein schmaler Mund, dem noch ganz die Gebärde der einatmenden, einschmeckenden Macht über Leben und Tod fehlt, wie sie Giorgios von Frauen auf den ausgeschnittenen Magazin-Fotos in der Schranktür von Andreas, dem Frisör, kennt, wenn der sie mal rasch und triumphierend öffnet.

Schließlich ist Andreas der einzige im ganzen Ort, der so etwas besitzt und zeigen darf, wem und wann er es will. Das begrenzt zwar seinen kleinen Brennpunkt der Macht, aber zeichnet ihn zugleich aus.

Auf ihren gebräunten Unterarmen pelzen neben feinsten Schweißperlen feine, schwarze Härchen, die gleichen, die vom Genick herunter offensichtlich in der Mitte der Schulterblätter (aber dort verschwinden sie allzu bald unter dem Hemdkragen) eine Miniaturallee bilden.

Sie scheint voller Energie, wie sie so die Hacken ihrer offenen Sandalen im Sitzen in den karstigen Boden stemmt, wirkt dabei aber ruhig und nicht in Eile.

***

In solch einer Ausführlichkeit und Genauigkeit hatte Giorgios von Maria noch nie vorher Kenntnis genommen. Er ist nicht der Typ, der feine Poren zählt, wenn er lieber über Krater springt. Doch dieser fast magische Augenblick fesselt ihn. Und wahrscheinlich erkennt er längst nicht alle Details so individuell und komplex, wie sie sichtbar sind, sondern – was für ihn schon viel ist – er nimmt allenfalls eine Ahnung des Ganzen auf.

erde mit felsen landschaft

Das ist wie bei einer der beiden Zement-Statuen auf der Platia seines Dorfes, ein Kriegerdenkmal für die Partisanen von 1896 aus der Zeit der kretischen Aufstände gegen die herrschenden Osmanen: nie – bis es ihm Kostas zeigte – war ihm aufgefallen, dass einem der Helden, der die Rechte gegen den Himmel reckt, drei Finger von der heroischen Hand fehlen, irgendwann einmal abgebrochen. Seitdem ragt an seiner Stelle ein kleiner, rostiger Eisensporn aus dem Zement der Hand.

Aber das zählt nicht wirklich. Helden sind nie beschädigt. Auch nicht, wenn man kein Kind mehr ist. Vielleicht sogar dann erst recht nicht, weil man vorher ja den Vaterhelden, den Onkelhelden, den Große-Bruder-Helden hatte.

Mütter und  Schwestern sind weder Fisch noch Fleisch. Und niemals Heldinnen.
Aber das Erwachsensein lässt die wahren Helden schwinden  bis auf die, die man aus der Kindheit mitgenommen, gerettet hat in die vereinsamende Gegenwart. Und ins Dirigat der Anti-Helden, der bösen Lehrer, Priester, Dorffeinde, Polizisten, Beamten, Vorgesetzten.

***

Er wendet sich an die neben ihm sitzende Maria.

„Es wird Regen geben, bald.“
Beide schauen nach oben.
Maria schüttelt den Kopf.
„Ich glaube nicht.“

Giorgios blickt fest nach vorn. Und dann, für Maria das erste Mal, fällt Giorgios in eine seltsame Art Singsang. Ganz leise, still, kaum ein Hauch von Melodie, aber dennoch eine. Ohne Refrain, ohne Anfang. Wie die nur scheinbar einfachen Lieder von Psarantonis.

Oder wie ein Gespräch von Giorgios mit irgendwem. Zum Beispiel mit Maria. Und die hört den seltsamen Unterton. Und weiß noch von gar nichts.

„Du wirst es bald merken,“ skandiert er zwischen zwei Tönen im schwebenden Vier-Viertel-Takt leiser als jeder Windhauch.

„Bald. Und dann kommt so viel, wie Du es noch nie erlebt hast. Es wird stärker sein als alles vorher. Du kannst gar nichts dagegen tun. Und“, jetzt drehte er ihr sein Gesicht voll zu, „wehre Dich einfach nicht. Es ist so wichtig. Auch wenn es schmerzhaft ist.“

Maria sieht ihn fragend an. Er riecht nach Wacholder. Sie schnuppert. Hatte er wieder seinen billigen Festlands-Ouzo statt des besseren Trester-Raki, wie sie noch von ihrem Vater wusste, der das immer behauptet hatte, getrunken? Wovon spricht er? Warum zittert seine Hand, die er auf ihre Schulter gelegt hatte, so?

Maria schüttelt die Pranke ab, steht auf und nimmt wieder ihren leeren Rucksack auf. Es wird bald Abend werden. Dann will sie im Haus sein.
Der Wind brist auf. Gibt sich Mühe, um das Crescendo der Zikaden doch noch zu übertönen. Die Schatten werden bereits länger und fingern gierig über die Bodenwellen wie über erstarrte Meereswogen.

***

Dieses Meer: am schönsten räkelt es sich noch am frühen Morgen in seinem tiefen Bett. Diese gewünschte frühmorgendliche Untätigkeit: Ein Meer, das sich müht, wach zu werden ohne Lärm, noch von keiner Fährspur genarbt.

Die ersten Fußeindrücke des Tages im Sand, die die Wogenzungen immer wieder weglecken. Die frühen Sonnenstrahlen, die sich schräg über die Schulter aufs Wasser wagen, um auf den sich räkelnden Wellenhügelchen ein erstes, kleines, quicklebendiges Funkeln anzuzünden. Das Licht in einer unschuldigen Reinheit, die jeden Maler entzücken würde.

Doch nun ist es Abend. Lebensdurstig schmachtet und schmatzt das Libysche Meer in der tiefen Senke dieses vergehenden Tages an den überschäumten kiesigen Küstensaum wie ein zwar müder, aber unaufhörlicher Liebhaber, der auf ewig die Erde küsst.

sonnenuntergang

Das letzte Licht saugt noch einmal so viel Farbe ein, dass es damit noch schnell alle Schrunden, Hässlichkeiten und alltäglichen Verletzungen gnädig, aber sich gleich wieder auflösend übermalt: die staubgelben verbrannten Wiesen werden für wenige Minuten golden, die steilen Eukalyptusquasten tiefgrün, die geborstenen Dachschindeln dürfen noch einmal frisch erglühen, bevor ihr Anblick im fleckigen Graurot erstirbt.

Und der Wind brist nur so in die silberne Blätterbrandung uralter und nie ermüdender Olivenbäume, unter denen die engmaschigen Plastiknetze der Ölbaumfischer schon auf die Ernte warten.

Eine auch physisch volle, strotzende Welt. Nicht nur eine filigrane metaphysische. Aber sie diffundiert durch den Schleier der schläfrigen, ungenauen Betrachtung.

Ein paar Wolkenschleier, vollgesogen mit Feuchtigkeit bei ihrem langen Flug von Nordafrika übers Meer bis hierher, haben sich an der Bergspitze verhakt wie Büschel heller Haare, die bei der Schafschur vom Wind aufgewirbelt worden sind und jetzt an den Dornen der kugeligen weißfilzig behaarten Sträucher mit den verführerischen gelben Lippenblüten hängen.

Es ist fast dunkel, als das liturgische Orchester der Zikaden wie auf Kommando verstummt.

***

Giorgios wartet noch einen Augenblick unter der Kiefer, lässt Maria ziehen. Steigt den Berg noch nicht gleich hinauf in Richtung des kleinen Hauses am Hang in der breiten Wegeskurve, wo Steineichen und Maulbeerbäume am Tage Schatten spenden. Folgt ihr erst nach einer Weile.

In diesem Haus wohnen zwei der drei Schwestern, Stella und die jüngste, Maria, die Giorgios begegnet ist. Hier verarbeiten sie die Schafsmilch von der über ihnen gelegenen Weide im hinteren Anbau zu Käse, mit Essig und Weißwein gehärtet. Den lagern sie zur ersten Reifung anschließend in einem Bodenloch, bis eine von ihnen, meist Maria, die festen Laibe ins Tal bringt.

Manchmal, wenn es eine entsprechende Nachfrage gibt, schäumen sie aus dem frischen Schafsmilchkäse auch ein sahniges Nebenprodukt: kleine Pyramiden, die noch von Restmolke triefen, leicht salziger Frischkäse, der am besten warm gegessen wird.

Ihre kleine Welt ist bescheiden. Keine Elektrizität, kein fließendes Wasser. Nur das Tageslicht erhellt diese Welt bis zum frühen Abend, Kerzenschein mildert die kurze Spanne bis zur Nacht. Sie kochen, solange es das gibt, mit Regenwasser aus ihrer Zisterne und trinken es auch. Sonst verwenden sie das Mineralwasser, das die eine der beiden, meist Maria, zusammen mit den Lebensmitteln vom unteren Dorf holt.

Es gibt kein Fernsehen, natürlich auch kein modernes Internet, nur ein batteriebetriebenes Radiogerät mit der ewigen Laiko-Musik, die – je schwächer die Stromquelle wird mit der Zeit – fast flüsternd im kleinen Universum säuerlicher Archaik die Rizitika-Balladen der Liebe und der Freiheit wispert.

Welche Liebe? Wessen Freiheit?

zimmer mit bett und radio

Es ist ein typisches Kalivi, eines dieser steinernen, einfachen Berghäuser, die von den früheren Bauern als Sommerhaus zur Erntezeit genutzt wurden. So müssen sie nicht jeden Tag den überlangen Weg meist vom Küstensaum herauf machen. Vorbei.

Die Bauern kommen nicht mehr zur Ernte, haben ihre Märkte verloren, reiben die Kugeln ihrer Handketten, die aufgeregt  klickenden Kompoloi, wie verzweifelt zwischen Daumenkuppe und Mittelfinger. Die Krise hat die letzten Schlupfwinkel erreicht.

Zum Glück haben sie – im Gegensatz zu den Städtern – noch ein paar Möglichkeiten, sich selbst zu ernähren, vom eigenen Acker oder aus dem Garten oder mit erschwinglichen lokalen Produkten wie dem Schafskäse von Stella. Und vor allem können sie im Winter preiswert mit Holz aus den Wäldern heizen.

Aber die Schulden steigen trotzdem, die Gehälter sind – wie auch das von Lehrerin Barbara  – halbiert worden. Und die Renten sind kläglich. Eine Tragödie.

Die Bühnen dieser Tragödie sind auch die in den Hang planierten jetzt verwahrlosten Terrassen der Zitronenhaine, überwachsen von strohgelben langen Gräsern oder kugeligen, sommerdürren Igelwolfsmilch-Büschen mit ihren dornigen Spitzen. Ein dürres, im Bergwind raschelndes Kleid des Vergessens. Die riesigen Zitrusfrüchte, längst nur mehr Schale als Fruchtfleisch, fallen zu Boden, platzen auf, faulen als Beute der Insekten.

Stella ist erst 36 Jahre alt, aber seit Jahren schon Witwe; ihr Mann Kostas war nachts im Gebirge abgestürzt und hatte sich tödlich verletzt. Volle drei Tage vergingen, bis man ihn gefunden hatte und ins Tal schaffte. Aber da war er schon längst tot.

Es hatte Gerüchte gegeben, weil Kostas sonst als ein guter Kletterer gegolten hatte und angeblich jede Furche des schrundigen Berges gekannt hatte. Wohl doch nicht jede. Dann war bald wieder Ruhe eingekehrt. Begraben, beklagt, vergessen. Stella zog sich widerstandslos die schwarzen Kleider an, die Witwentracht, die sie nun bis ans Lebensende wie eine zweite Haut trug.

Maria, die kleine Schwester von Stella und seit zwei Jahren raus aus der Schule, ist mit ihren mittlerweile sechzehn Jahren Nachkömmling und noch zu jung für das erzwungene Alleinsein, aber auch zu alt, um noch viel länger den Stand der unberührbaren Kindfrau zu leben, der sie bis heute schützt.

Eine Brücke tut sich vor ihr auf, sie bald zu beschreiten. Sie weiß es nur noch nicht. Es ist noch nicht lange her, dass sie ihre Schutzzone verlassen hatte, verlassen musste.

***

So lange sie – wenn auch unregelmäßig – die Grundschule besucht hatte, war es ihr Onkel Giorgios, der Bruder ihres Vaters, der sie fast täglich mit seinem Motorrad die vier Kilometer runter gebracht hatte zur Asphaltstraße.

Dort, am zweiten, größeren Abzweig hielt stets um kurz nach sieben Uhr der Schulbus, der alle Schüler von Agia Soumeli einsammelte. Bis auf die wenigen Tage, wo er mal nicht ansprang oder der Fahrer Stephanos krank war. Dann fiel für diese Schüler der Unterricht eben aus. Welch ein Glück, dass es Stephanos überhaupt gab.

Und am frühen Nachmittag holte Giorgios Maria an derselben Stelle, wo er sie morgens hingestellt hatte, wieder ab. Auch bei Regen und im Winter oder wenn die Schule mal länger ging und es anschließend schon fast dunkel war. Diese Zeiten aber standen im Stundenplan fest und jeder wusste sie.

benzintank motorrad

Am Anfang hatte Giorgios seine kleine Nichte noch vor sich auf den mit einem rotgrün-karierten alten Handtuch gepolsterten Tank gepackt. Später saß sie hinter ihm und umklammerte ihn fest, um nicht runter zu fallen. Es gefielt ihr halt so.

Wenn Giorgios mal nicht konnte, holten sie mittags auch andere unten an der Straße ab oder brachten sie auch morgens zum Schulbus. Das war kein Problem, denn Maria kannte sie ja. Etwa der alte Andreas, der Frisör, auf dem Rückweg aus Agia Soumeli.

Angeblich holte er an solchen Tagen Nachschub für seinen Laden – Rasierklingen, Feuerzeuge, Seifen.

Das sagte er so zu seiner Frau Mirto, wenn er seinen alten Fiat Punta startete. Aber in Wirklichkeit stromerte Andreas zusätzlich ein paar Stunden allein an der Promenade von Agia Soumeli herauf und herunter.

Schaute, je nach Tageszeit, den Fischern zu, die ihren Fang – Barben, Sardinen, mal Tintenfische – zwischen Eisschnee in flache Kisten verpackten, und tat so, als ob er sich dafür interessierte oder sogar etwas kaufen wollte.

Nur so, weil er dann ein Gefühl von Selbstständigkeit und Freiheit hatte. Mirto wusste immer alles und schwieg klug.

Oder auch Alkibiades, der Wirt vom Kafeneion, mit einem Gesicht, das wie die reliefierte Rinde eines Olivenbaumes aussah. Mit seinem Pickup – der eigentlich seinem Bruder Alexander gehörte – nahm auch er Maria an der Hauptstraße auf. Da ratterten sie denn oft los und machten an einer entfernteren Wiese Station, wo er dann die vier Schafe der alten Helena molk.

Und manchmal, wenn es Zeit für die Schur war, beförderte er zusammen mit Leergutkisten, Drei-Liter-Tresterflaschen oder Kartoffelsäcken auch noch das fremde, an den Beinen gefesselte Wollvieh, auf der offenen Ladefläche liegend, als blökende Passagiere zu Andreas, der auch scheren konnte.

schafe

Aber nur dann, wenn es Helena nicht selber konnte, weil sie gerade mit ihrem Auto unterwegs war in der Gegend. Sie wurde als Hebamme gerufen, was sie zwar nicht war, aber vorbildlich konnte. Nur das zählte. Bis zu ihrem Tod.

So musste keiner warten – ihre vier Schafe nicht, die zweimal am Tag gemolken werden mussten. Und auch nicht die Babies. Und auch Maria nicht, wenn Giorgios mal nicht konnte und sich mit Alkibiades abgesprochen hatte.

Alkibiades hatte zwar keinen Führerschein, aber das wusste ja keiner. Glaubte er.
Aber am liebsten fuhr Maria mit ihrem Onkel.

***

Als Giorgios das Haus der Schwestern von weitem sieht, hört er über und hinter sich ein erstes, verhaltenes Grollen, als würde der Berg erwachen wie ein wilder Hund. Mault, streckt sich, schüttelt sich.

Der Mond ist eine schwache Ahnung, deren Helligkeit wie eine kümmerliche, kalte Aura noch nicht vollständig über den Berggrat gewachsen ist.
Über dessen gelbe Ginster-Flanken zieht ein Zittern, scheint es. Die Wolken haben hastig ihr dunkles Kleid angezogen, mit giftiggelben, nachlässig aufgenähten Flicken.

Der kurze Übergang vom Abend zur Nacht ist stets zu schnell und immer ein wenig grausam und ungerecht. Es ist die Stunde, in der der Kosmos die Augen schließt. Am Himmel reitet schon der helle Kentauer Cheiron daher, der einzig gute unter den Söhnen der Zeit.

Jetzt fallen die ersten Tropfen aus dem dunkelvioletten Himmel.
Der Mond wundert sich – unsichtbar hinter den dicken Wolken – über das schrille Lied von Kalliopoulos, Giorgios einzigem Ziegenbock, der ihm sonst oft ergeben wie ein Hund folgt und neben ihm wie im Blindflug, aber geschickt über alle Steine talabwärts springt.

Nur heute ist er zurückgeblieben. Sein lautes Gemecker aus dem Gatter neben dem Haus von Giorgios jenseits des Bergkamms in einer von Hartgras und Ginster behaarten Hangflanke, ist schrill wie das höhnische Gelächter der Götter über die Menschen, denen sie aus reiner Langeweile oder Bosheit Übles angetan hatten.

himmel ausschnitt gegen stein

Die ersten Tropfen zeichnen sich ab im Staub des Weges, schlagen – stärker werdend – den Sand hoch über die Knöchel, sättigen das Felsmoos, lassen die Baumstämme glänzen, während Giorgios durchnässt abwärts eilt, mit dem gegerbten Lederrucksack auf dem Rücken.

Die himmlischen Fluten haben sich vollgesogen mit all den Samen des Weges, der zerknitterten dünnrosafarbenen Zistrosen, des dornigen Kapernstrauches und auch des quittegelben Riesenfenchels.

Der Windfauch, der dem eigentlichen, dem großen Guss vorausrast, schlägt das letzte Scheingold des gelben Blütenstaubes aus den Pinienzapfen, verquirlt alles miteinander und flutet weiter, nimmt – nun schon ein Sturzbach – Geröll auf und schlägt sich wie mit eiserner Faust durch die Natur, die sich ihm längst nicht mehr entgegenstemmt.

Die sich mehrende Springflut knallt jetzt die Bergflanke herab, reißt alles mit sich, überspült den roterdigen Pfad, wirft sich in die stacheligen Hecken und dröhnt mächtig an die blassblaue Holztür von Stellas Haus.

Der Donner will den Berg sprengen. Maria, alleingelassen im Haus, bekreuzigt sich öfter, als die Blitze in die verstörte Welt fahren, und hat sich in die hintere Ecke zurückgezogen.

Immer drängender hämmert die Regenwut an die Tür, bis endlich der eigentlich doch so kräftige innere Riegel aus Pinienholz splittert und die Tür nach innen aufschlägt.

Ungehemmt prellt der Fels aus Wasser ins Zimmer, all den Samen aufzwingend, der zuvor aufgesogen worden war, drückt sich zwischen Marias weite Schenkel und schwemmt in ihren klagenden Schoß.

So findet und tröstet sie Giorgios. Und nun weiß Maria, wovon er ihr eben noch vor dem Unwetter unter der Aleppo-Kiefer gesungen hatte. Jetzt, jetzt kennt sie den Refrain.

Giorgios ist nicht über den Krater gesprungen. Und er ist auch kein Held.

Minuten später ist das Unwetter abgezogen, seine Gewalt vorüber. Sie dampft nur noch aus dem Gebüsch.

Die Szenerie jetzt ist üppig gedeckt wie die Tafel zu einem überreichen Gastmahl. Zu bunt dekoriert, unglaubhaft schön. Das Gefühl droht, an diesen fetten Brocken zu ersticken. Zu fett. Zu bunt. Zu üppig. Aber es ist nun einmal genau so.

Die Sinne werden nicht sanft umworben und betört, sie werden fast erstickt. Wie eine Liebesnacht, in der sich alles einfindet außer der Liebe, sich alles kathartisch erhebt und in die endlos schöne Tiefe stürzt, weil in dieser Nacht in dieser Welt kein Platz ist für ein allgemein erträgliches Mittelmaß.

***

Das Mondlicht schmiegt sich in die nassen, irdenen, rotgrauen Dachziegel, die wie schon in der Antike lakonisch gewellt und gebrannt sind. Gegen spätere garstige Winterwinde sind diese Dächer mit kleineren Felsbrocken beschwert.

Nur noch von den höheren, unsichtbaren Berghängen rinnen die letzten, rasch versiegenden Kurzzeitfluten ab. Jetzt plätschern schon wieder die fernen Klang-Kaskaden der Schafsglocken durch den schwarzen Vorhang der geschlossenen Nachtbühne.

Das Abend-Meer schimmert wie ein nur hingeworfenes dunkelviolettes Tuch, in das die Sterne eingestanzt scheinen. Babies wimmern im Traum hinter den geschlossenen rissigen Fensterläden. Unter den dünnen Bettlaken kringeln sich die Klagen der Ängstlichen hervor. Junge Hunde zucken im Schlaf im Milchtritt mit den Pfoten.

In der weiß gekalkten von kalten Neonröhren ausgeleuchteten Taverne in Agia Soumeli scheppern die Lieder aus den Lautsprechern neben deckenhoch gestapelten Cola- und Bierkisten im Sieben-Achtel-Takt des Kalamatianos. Später singen noch einmal am selben Abend die Volkssänger Psarantonis Xylouris, Vassilis Skoulas und Nikos Xylouris ihre eindringlichen und auf dieser Kneipenbühne von jeder auch noch so leichtfertigen Tanzeinlage befreit gesungenen Lebensgeschichten.

maenner beim backgammon spiel

Den drohenden Unterton, der im Raum hängt, hört, wenn die Musik mal schweigt, keiner auf den harten Holzstühlen mit den schmerzhaft steilen Lehnen. Es ist, als wird er vom elektrischen Brummen des mannshohen Kühlschrankes neben der Toilettentür mit Legionen von Fix-Bierdosen und Boutari-Weinflaschen geschluckt. Nur das Klicken der fast aggressiv hingeschleuderten Würfel auf die intarsierten Holzfelder beim Tavlispielen dringt noch durch.

Doch die Frist läuft ab. Auch wenn es keine direkten und deutlichen Anzeichen dafür gibt.

Noch schimmert das Glück ungläubig als Mond herab durch das löchrige Blätterdach der Steineichen und flüstert auf dem hell widerscheinenden Boden gestammelte silberne Silben.

Zum Autor:
Uwe Krist, Journalist und studierter Archäologe und Kunsthistoriker, lebt in Berlin, dreht TV-Dokumentationen oder schreibt über seine weltweiten Lieblingsziele. Seit Jahrzehnten bereist er Griechenland und Kreta, traf  mehrfach Mikis Theodorakis, mag Kazantzakis, Ritsos, Kavafis, Elytis, Papadiamandis, aber auch Kästner, Millers „Koloss  von Maroussi“ , Durrells „Limonen“ und „Oliven“ sowie Ouzo, Retsina und Tsatsiki und hat (notfalls als Alibi) u.a. auch einen griechischen Schwiegersohn.

Text: Uwe Krist. Fotos: Uwe Krist und Ina Kutulas.

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2 Gedanken zu „Der Regen – eine kretische Passion“

  1. Meine Güte, da trieft es aber ganz schön vor lauter Gesülze! Ich habe nur noch die bebenden Lenden des Schäfers vermisstWie kann denn ein Mädchen aus Agia Roumeli in Mires zur Schule gehen und an der Kreuzung nach Sivas abgeholt werden?
    Gab es da keinen Lektor??

    Antworten
    • Liebe Frau Brüggen, über Stil lässt sich streiten. Was die Geographie angeht, haben wir nachgebessert. Der Autor meinte keinen konkreten Ort wie Agia Roumeli, sondern einen Kunstort, daher haben wir gemeinsam beschlossen, einen Ort namens Agia Soumeli zu “erfinden”. Die anderen Orte wurden entfernt. Danke für Ihren Hinweis!

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