Der Kopais-See: Katavothren und Malaria

Eine virtuelle Besichtigung von Christian Gonsa

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Über Jahrtausende ein Malaria-Sumpf, wurde der Kopais-See erst im 19. Jahrhundert trockengelegt. Christian Gonsa präsentiert in diablog.eu Ausschnitte aus der wechselhaften Geschichte des sagenumwobenen Gewässers. Postgraduierte der Aristoteles-Universität Thessaloniki haben den Text ins Griechische übertragen.

Wenn ich in Quarantäne-Zeiten an die fernen Landschaften denke, die ich in besseren Tagen durchstreifen durfte, stelle ich mir gerne sogenannte Übergangszonen vor – um der Absurdität der Situation gerecht zu werden. Der griechische Dichter Hesiod beschrieb die Gipfelzone des Helikonas in Böotien, heute Zagaras genannt, als eine derartige Übergangzone zwischen menschlicher und göttlicher Welt: Hier tanzten die Musen leichtfüßig um den Altar des Zeus, wie er schrieb. Dann sangen die Damen bei Nacht und Nebel – gespenstisch.

Dort, wo sich der Wald lichtet, ist eine Quelle zu finden, die mit der antiken Hippokrene gleichgesetzt wird. Buchstäblich atemberaubend fallen von dort oben die Faltenwürfe der alpinen Bergbildung abwärts, Bauschungen eines gewaltigen Erdkaftans, vor hunderten Millionen Jahren verfestigt. Ganz Nord-Böotien bis zu den begrenzenden Bergen ist zu sehen: das Kifissos-Tal, Orchomenos mit Burgberg, rechts davon verliert sich das weite Kopais-Becken am Horizont; alles wie eine überdimensionierte Landkarte. Und alles sieht herrlich aus.

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Carl Carl Rottmann: Kopaissee 1839 ©Szilas/Neue Pinakothek München (s. Anm.)

Vielleicht gerade deshalb hat mich ein Buch besonders angezogen, das diese Idylle als eine der griechischen „Landscapes of  Desease“, eine der „Krankheits-Landschaften“ also, zu bezeichnen wagte. Dorthin steige ich nun virtuell hinunter, zunächst nach Evangelistria, früher Zagaras; und von dort fahre ich weiter nach Aliartos, der „Hauptstadt“ der Kopaida.

Ich spaziere durch den Ort und stoße auf schmucke englische Gartenhäuschen, wahrlich eine seltene Erscheinung in diesem Land. Das ist das „model village“. Die englische „Lake Copais Ltd.“ hatte hier, am Seeufer, ihre Verwaltung angesiedelt und damit mehr oder weniger das moderne Aliartos gegründet. Englische Anleger hatten die ursprünglich französische Gesellschaft zur Trockenlegung des Kopais-Beckens, die 1887 pleite gegangen war, übernommen, sie waren es, die das Hauptquartier aus Theben ans Seeufer verlegt und im großen Stil Wohnungen für ihr Personal und ihren Direktor, Speicher und landwirtschaftliche Nutzgebäude wie die Entkörnungsanlage gebaut hatten.

Einer der ersten, die die gerade erst getrocknete Ebene inspizierten, war der deutsche Geograf Alfred Philippson. 1894 veröffentlichte er einen langen Artikel über seinen Ausflug, in dem er uns zunächst einmal erklärt, was das besondere an dem Kopais-See war: Er war ein Katavothren-See. Doch was ist das?

Der Kopais-See in Böotien ist einer der größten und interessantesten Vertreter der Gruppe der sogenannten Katavothren-Seen, jener periodischen Seen oder Sumpfseen, welche des oberirdischen Abflusses entbehren und ausschließlich durch unterirdische Schlünde (im Neugriechischen „Katavothren“ genannt) entwässert werden, die sich im Kalkgebirge ihrer Umrandung bilden.Es ist das Wasser selbst, das diese Ausgänge in den kohlensauren Kalk bahnt, in unterirdischen Wassergängen durch das Gebirge fließt und dann weiter östlich oder direkt an der Küste wieder zum Vorschein kommt und ins Meer entwässert. Dann löst sich der See in eine Anzahl von Sümpfen auf, zwischen denen trockene, fruchtbare Ebenen sich ausdehnen.

Im Winter und im Frühjahr konnte die Sumpflandschaft wieder voll unter Wasser stehen und, abhängig von den Regenfällen in den Bergen, über die Ufer treten und Unheil in den herumliegenden Ackerlandschaften anstellen, so wie in den Jahren 1852 und 1864, als die Wasser bis ins Becken von Livadeia vordrang. Die Unberechenbarkeit des Sees brachte offensichtlich schon die Mykener dazu, seine Trockenlegung zu planen und zu organisieren. Zeitgleich mit den Pharaonen der ägyptischen Ramessiden-Dynastie realisierte ein uns unbekannter Herrscher also im 13. Jahrhundert vor Christus ein Projekt von pharaonischen Dimensionen. Zunächst wurden Deiche angelegt, die Seebuchten vom Wasser trennten und Polder, Trockengebiete, schufen. Möglicherweise wurden auch Überschwemmungsgebiete angelegt.

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Die fruchtbare Kopais-Ebene heute

Das Geniale an den Entwässerungsanlagen selbst war die Verwendung der Katavothren für die Entwässerung. Die den See speisenden Gewässer Melas und Kifissos wurden die Deiche entlang geführt oder, an schwierigen Stellen, von zwei Deichdämmen kanalisiert und so zu den Katavothren geleitet, vor allem zur „Großen Katavothre“ in der Nordostbucht des Sees, durch die sie ins Gebirge und in der Folge ins Meer entwässerten. Ein weiteres Wunder ist die mykenische Burg auf der „Insel“ von Glas. Das gesamte Inselplateau, das heute natürlich längst keine Insel mehr ist, wird von ihren Mauern eingefasst. Die Deiche waren über drei Meter hoch und wurden höchstwahrscheinlich auch als Straße verwendet. Ich frage mich, wie viele Menschen für die riesigen Mauern der Burg und den über 15 Kilometer langen Deich geschuftet haben, wie sie auf einem Fleck gesammelt und organisiert wurden.

Ähnlich wie das bronzezeitliche arbeitet auch das Entwässerungssystem des 19. Jahrhunderts. Es wurden Kanäle angelegt, die das Wasser ins östliche Gebirge führten, allerdings nicht durch die Grotten, sondern durch einen künstlichen Tunnel bei Karditsa, heute wieder, wie in der Antike, Akraiphnio genannt. Das Wasser wird in den Yliki-See, einen zum Speichersee umfunktionierten Karstsee, geleitet.

Nach der ersten, französischen Trockenlegung kam eine dicke Torfschicht zu Tage, die sich am Boden des ehemaligen Sees ausdehnte. Der Torf fing Feuer und soll zwei Jahre lang gelodert haben. Das Feuer sorgte dafür, dass das Bodenniveau stellenweise bis zu vier Meter absank, was reichte, um den neuen Abflusskanal unbrauchbar zu machen. Das Wasser floss nicht ab und der See füllte sich stellenweise wieder. Die französische Gesellschaft ging pleite; die neue britische Trägergesellschaft änderte die Pläne und stellte das Projekt mit hohen Kosten fertig.

Im Altertum war der See, längst hatte er sich nach dem Untergang der Mykener und der Zerstörung der Deiche wieder gefüllt, berühmt für seine köstlichen Aale, in späterer Zeit für seine Blutegel.

blutegel

Sie waren einst in der Medizin „unentbehrlich“, für den Aderlass vor allem, der den Körper entgiften sollte. Aber mit Staunen lese ich, dass Blutegel noch heute eingesetzt werden bei Arthrose und in der plastischen Chirurgie – in diesen Fällen wegen der Substanzen in ihrem Speichel, die entzündungs- und gerinnungshemmend wirken. Wie auch immer, im See gab es sie haufenweise und aus dem ganzen östlichen Mittelmeerraum sammelten sich arme Tröpfe, um sie zu sammeln und zu verkaufen, und dieses Sammeln geschah auf ziemlich widerwärtige Art und Weise. Wie der französische Diplomat und Reisebuchautor Henri Belle in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts beschrieb, wurden elendige, altersschwache Gäule in die Sümpfe getrieben, an denen sich die Blutegel massenweise festsaugten. Meist wurden die Tiere nach getaner Arbeit gleich in den Sümpfen gelassen, um dort zu verenden. Wer aber kein Geld für ein Pferd hatte, verwendete den eigenen Körper zur Konzentration der wertvollen Viecher: Ausgemergelte Gestalten gingen in die Sümpfe, ließen sich von den Tierchen anzapfen und pflückten sie in der Folge vom eigenen Körper.

Bekannt war die Kopais aber vor allem als „Malaria-Sumpf“. Griechenland war das Land mit der höchsten Zahl an Malariakranken in Europa, und eines der am meisten betroffenen Gebiete war die Landschaft um die Kopais. Philippson und viele andere glaubten, dass die Trockenlegung die Malaria drastisch zurückgehen ließ. Doch das ist ein Trugschluss, wie Katerina Gardika in ihrem Buch „Landscapes of Desease“ über die griechischen Malaria-Landschaften ausführt. Noch 1906 musste die Lake-Copais-Company einen weltberühmten Wissenschaftler engagieren, um sie bei der Bekämpfung der Malaria zu unterstützen, die beim englischen Verwaltungspersonal und bei den Arbeitern umging. Das war Ronald Ross, der den Nobelpreis für die Entdeckung erhalten hatte, dass der Malariaerreger Plasmodium über die Stechmücke Anopheles übertragen wird.

Unter anderen kam er in Orchemenos/Skripou am ungesunden Westufer des ehemaligen Sees vorbei. Locker schrieb er:

Ich untersuchte das böotische Orchomenos, einst eine Stadt reicher Händler, aber heute ein armseliges Dorf, in dem fast alle Kinder aufgrund von Malaria eine enorme Milz hatten.

Als ich von der Splenomegalie, der Milzvergrößerung, las, einer Folge von Malaria, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Die vielen Kinder auf den vielen alten Schwarzweißfotos von Bauern oder Nomaden mit überdimensionierten Bäuchen, die hatten keine Hungerbäuche – die litten an Malaria! Etwa ein Viertel bis ein Drittel der Griechen hatte damals Malaria. Das änderte sich erst mit dem massiven Einsatz des Insektizids DDT nach dem Zweiten Weltkrieg – die Krankheit wurde ausgerottet im Land.

DDT-Handpumpe
DDT-Handpumpe

Aber auch die Natur selbst hatte schon viel früher eine Gegenstrategie gegen sie entwickelt, und zwar durch eine andere Krankheit. Zwischen genvererbter Blutarmut und Malaria besteht ein direkter Zusammenhang. Sichelzellenanämie und Mittelmeeranämie (Thalassämie) treten gerade in ehemaligen Malariagebieten auf, darunter auch in Griechenland. Warum? Anämie bedeutet, dass die Bildung von roten Blutkörperchen gestört ist. Der Körper aber reagiert auf diesen Mangel und verstärkt die Produktion der roten Blutkörperchen – das aber schützt vor Malaria, die die roten Blutkörperchen angreift. Anämie bringt in Malaria-Gebieten also höhere Überlebenschancen. Die natürliche Selektion hatte zur Folge, dass in diesen Krankheits-Landschaften mehr Menschen als in anderen Ländern an Anämie litten und weiterhin leiden. Ich aber denke, wie wohl viele in diesen Monaten, an die Parasiten, Bakterien, Viren und Viroiden um und in mir und frage mich, warum ich ihnen bisher so wenig Aufmerksamkeit geschenkt habe.

Anm. 1: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Rottmann_-_Kopaissee_1839.jpg?uselang=de

Dies ist eine originalgetreue fotografische Reproduktion eines zweidimensionalen Kunstwerks. Dieses Werk ist gemeinfrei, weil seine urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist. Dies gilt für das Herkunftsland des Werks und alle weiteren Staaten mit einer gesetzlichen Schutzfrist von 100 oder weniger Jahren nach dem Tod des Urhebers.

Anm. 2: Die griechische Übersetzung [link] des Textes von Christian Gonsa wurde an der Aristoteles-Universität Thessaloniki am Abteilungsübergreifenden Postgraduierten-Studienprogramm für Dolmetschen und Übersetzen unter der Leitung von Fotini Patinari von den Studierenden Evgenia Karientidou, Elsa Mavridi, Grigoris Pavlidis, Silia Pournara und Eleni Tatli angefertigt.

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©Fotini Patinari

Text: Christian Gonsa. Redaktion: A. Tsingas. Abbildungen: Szilas/Neue Pinakothek, München; A. Tsingas; Fotini Patinari.

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