Achmétaga, ein geschichtsträchtiges Anwesen auf Nord-Euböa

Über Geneviève Lüschers Dokuroman „Achmétaga“

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Geneviève Lüschers Dokumentarroman „Achmétaga“ basiert auf einer wahren Geschichte: Der Schweizer Charles Müller-von Fellenberg und der Engländer Edward Noel, ein Cousin ersten Grades und Schutzbefohlener der verwitweten Lady Byron, erwarben in den 1830er Jahren das Landgut Achmétaga von einem osmanischen Großgrundbesitzer. Noch heute, fast 200 Jahre später, ist das Anwesen im Besitz der Familien Noel und Noel-Baker. Im Laufe seiner langen Geschichte waren dort nicht nur Politiker, sondern auch prominente Schriftsteller und Künstler wie Virginia Woolf und Maria Callas zu Gast. Achmétaga heißt heute Candili. Das Landgut kann für Retreats and Seminare gemietet werden und wirkt mit seinem Charme wie aus der Zeit gefallen.

Buchumschlag mit antikem Tempel und Wort Achmetaga

1843 wanderte das großbürgerliche Ehepaar Emma und Charles Müller-von Fellenberg aus dem schweizerischen Bern nach Griechenland aus. Auf der Insel Euböa hatten die Philhellenen Charles und Edward das Landgut erworben. Während sich Charles mit Begeisterung in die Bewirtschaftung stürzte, korrespondierte Emma voller Heimweh mit ihrem Elternhaus. Mit der neuen Umgebung und den befremdlichen griechischen Sitten der damaligen Zeit konnte sie sich anfangs nur langsam anfreunden.

Das Londoner Protokoll von 1830, eins der Protokolle, die sich mit der Schaffung eines neugriechischen Staates befassten, erlaubte den osmanischen Großgrundbesitzern, ihre Ländereien zu behalten. Der erste Präsident Griechenlands Ioannis Kapodistrias appellierte deshalb an die wohlhabenden Griechen der Diaspora und an europäische Philhellenen, diese Ländereien aufzukaufen, damit die Osmanen Griechenland verlassen. So kauften die beiden Freunde Charles und Edward Achmétaga. Sie waren in Hofwyl bei Bern im Fellenberg-Institut für höhere Söhne erzogen worden. Charles heiratete Emma, eine der Töchter des berühmten Pädagogen Emanuel von Fellenberg. Das frisch getraute Ehepaar zog nach Griechenland und lebte viele Jahre auf Achmétaga, kehrte aber 1867 nach fast 25-jährigem Griechenlandabenteuer schließlich doch nach Hofwyl zurück.

Landhaus mit Blumen

Geneviève Lüscher ist 2002 über zwei wissenschaftliche Arbeiten zur Achmétaga-Hofwyl-Korrespondenz und ein Buch über die Familie Noel auf das Thema gestoßen. Fasziniert vom Briefwechsel zwischen Emma und ihrer Familie widmete sie sich eingehend der Recherche. Viele Fragen gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf: Wie kam ein gutbetuchtes Berner Ehepaar dazu, sich im „wilden“ Griechenland niederzulassen, das als Staat erst seit 1830 existierte und mit grundlegenden „Kinderkrankheiten“ zu kämpfen hatte? Warum auf die Insel Euböa, die noch 1833, gerade einmal 10 Jahre vor Ankunft von Emma und Charles, zum Osmanischen Reich gehörte? War es der Philhellenismus der Familie von Fellenberg, der dieses gewagte Unternehmen angetrieben hatte?

Geneviève Lüschers erste Reise nach Euböa führte natürlich nach Achmétaga oder Prokópi, wie das Dorf heute heißt, das 1923 in unmittelbarer Nähe des Landguts von Vertriebenen aus Kleinasien gegründet wurde. Dort lernte sie auch Barbro Noel-Baker kennen, eine Nachfahrin von Edward Noel. Lüscher empfand das waldreiche Nordeuböa als ausnehmend schön. Es war folgerichtig, dass sie 2015 mit ihrem Partner für ein Jahr auf die Insel zog. In dieser Zeit entstand ihr Buch.

„Achmétaga“ ist keine historische Abhandlung, sondern ein Roman. Lüscher hat aus publizierter und nichtpublizierter Korrespondenz in deutscher, französischer und englischer Sprache geschöpft, um eine längst vergangene Welt lebendig werden zu lassen. Damit hat sie ein Sittenbild erschaffen. Eingeschobene Kapitel beinhalten historische Ereignisse, Kurzporträts und Wissenswertes aus der griechischen Geschichte. Diese knappen Kapitel sind im übersichtlich gestalteten Inhaltsverzeichnis mit einem Blick leicht zu erfassen. Im Roman selbst erkennt man sie an ihren gouachierten Seiten und der eigenen Schrifttype, die sich von der des Romantextes unterscheidet. Somit ist die von Lüscher erzählte Geschichte in überaus passender Weise in die damals aktuellen Zustände und soziopolitischen Ereignisse eingebettet.

Blick auf einen Garten

Entsprechend plastisch fällt beispielsweise auch der aufregende, längere Aufenthalt des Paares in der noch jungen Hauptstadt Athen aus. Kursiv gedruckte Briefe bilden das Rückgrat des Romans, die Autorin hat sogar einen Brief der damaligen griechischen Königin Amalia an ihren Vater in Oldenburg ausfindig gemacht. Amalie, Herzogin von Oldenburg, wurde 1836 durch Heirat mit Otto I. Prinzessin von Bayern und Königin von Griechenland. Als Regentin lag ihr Hauptinteresse auf der Landwirtschaft, sie setzte sich für eine Einschränkung der Macht osmanischer Großgrundbesitzer ein. Lüscher hat die Korrespondenz mit Episoden aus dem Leben von Emma und Charles verbunden, Erklärungen eingefügt und sie dem heutigen Sprachgebrauch angepasst, ohne dass ihre Authentizität darunter leidet.

Geneviève Lüscher verbindet historische Hintergründe zu Griechenland – aber auch zur Schweiz, z.B. zu Hofwyl und die dortige Erziehung – und Fiktion zu einer unterhaltsamen Einheit und lässt Leser und Leserinnen in diese längst vergangene Epoche eintauchen. Ihre Sprache verleiht dem Pendeln der Protagonisten zwischen den zwei Welten Griechenland und Schweiz durch viele Dialoge sprachliche Substanz und Tiefe. Ergänzt wird der dichte Text durch 16 Seiten in der Buchmitte, die 30 seltene, unbekannte und qualitativ hochwertige Illustrationen aus Griechenland und der Schweiz beinhalten. Nach dem wehmütigen Epilog untermauern Quellen, Bildnachweise, Stammbäume und Karten die wissenschaftliche Genauigkeit, aber auch die Hingabe, mit der die Autorin ihre Nachforschungen betrieben hat.

Überhaupt ist der umfangreiche Band haptisch und gestalterisch sehr ansprechend, einziger Wermutstropfen ist der hohe Schweizer Buchpreis. Hoffentlich lässt sich ein griechischer Verlag überzeugen, diesen Dokumentarroman in sein Verlagsprogramm aufzunehmen, damit diese spannende Geschichte aus den Anfängen des neugriechischen Staates ein breites Publikum findet.

Achmetaga
Stämpfli Verlag, 2018
256 Seiten, gebunden, CHF 39
ISBN: 978-3-7272-7907-2

Zur Autorin
Geneviève Lüscher hat an der Universität Basel Ur- und Frühgeschichte studiert und danach als promovierte Wissenschaftlerin, Publizistin, Redakteurin und Wissenschaftsjournalistin bei der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) gearbeitet.
Sie betreibt den Blog https://wandern-griechenland.ch/.
Achmétaga heute: https://www.candili.gr/ (in englischer Sprache).

Text: A. Tsingas. Abbildungen mit freundlicher Genehmigung von candili.gr.

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